Sensory Awareness
Sensory Awareness ist eine Achtsamkeitspaxis,
die Charlotte Selver auf der Basis der Gindlerarbeit in den USA
entwickelte und weltweit in Kursen anbot.
Charlotte Selver (1901-2003) entstammte einer
wohlsituierten Familie. In ihrer Jugend widmete sie sich intensiv
dem Klavierspielen. Nach der Schule studierte sie Ausdrucksgymnastik
bei Rudolf Bode und ging später mit Heinrich Medau nach Berlin, wo
sie als dessen Assistentin arbeitete. Sie hatte großes Interesse an
der Deutschen Reformbewegung. Mitte der 20iger Jahre begegnete sie
Elsa Gindler und arbeitete intensiv mit ihr. Sie nahm auch immer
wieder an Kursen teil, die Elsa Gindler gemeinsam mit dem
Musikpädagogen Heinrich Jacobi gab. An der Universität Leipzig
unterrichtete sie Gymnastik, verlor nach der Machtübernahme der
Nazis jedoch diese Stelle und emigrierte 1938 nach New York.
Hier baute sie sich eine Praxis auf und
unterrichtete an verschiedenen Forschungsinstituten (u.a. an der New
School for Social Research
oder am William Alanson White Institute, wo sie mit
Psychoanalytikern arbeitete). Sie forderte ein intellektuell
orientiertes Publikum heraus, sich auf non-verbale Erfahrung und
individuelle Entdeckungen einzulassen. Erich Fromm und Fritz Pearls
nahmen an ihren Kursen teil und erkannten die Bedeutung dieser
Arbeitsweise für die ganzheitliche Entfaltung der Persönlichkeit.
Mit dem Literaten und Philosophen Alan Watts
sowie mit Shunryu Suzuki Roshi, der die ersten Zencenter in
Kalifornien begründete, gab sie gemeinsam Seminare. Sie sprachen von
Sensory Awareness als "living Zen" oder "the inner experience of the
entire being". Ab 1963 bot Charlotte Selver Kurse am Esalen
Institute in Big Sur an. Damit trug sie entscheidend zur Entfaltung
vieler somatisch orientierter Verhaltensweisen bei und nahm
wesentlichen Einfluss auf die sich ausbreitende
humanistisch-therapeutische Bewegung.
Später zog sie mit ihrem zweiten Ehemann
Charles Brooks, dem Autor des Buches "Erleben durch die Sinne", in
die unmittelbare Nähe von Green Gulch, einem Zweig des San Franzisco
Zencenter. Hier boten beide neben kürzeren workshops über viele
Jahre auch mehrmonatige study groups an, während denen die
Teilnehmenden in die Zengemeinschaft integriert waren.
1971 wurde die "Sensory Awareness Foundation"
ins Leben gerufen, eine Stiftung, deren Ziel die
Erhaltung und Dokumentation von Charlotte Selvers Lebenswerk
ist. 1995 verlieh ihr das "California Institute of Integral Studies"
in San Franzisco die Ehrendoktorwürde.
Erst im Frühjahr 2003 mit 102 Jahren zog
Charlotte Selver sich vom aktiven Unterrricht zurück. Eine Gruppe
von KollegInnen traf sich einmal wöchentlich bei ihr zu Hause zur
gemeinsamen Arbeit, auch am Abend vor ihrem Tod im August 2003. Ihr
Nachlass (Manuskripte, Ton- und Bildaufnahmen) wurde an das Archiv
für Humanistische Psychologie der Universität von Santa
Barbara übergeben.
Charlotte Selver wollte keine Methode vermitteln. Sie ermutigte dazu,
an sich selber zu erfahren, was es heisst, dem Leben gegenüber
jederzeit präsent und reaktionsbereit zu sein, jedem Moment
unvoreingenommen und neu
zu begegnen. Dies lässt sich in alltäglichen Seinsweisen und Aktivitäten wie Liegen, Stehen, Gehen, sich
setzen und wieder aufstehen, etwas aufheben, jemanden berühren...
erfahren. Die Art und Weise, wie wir etwas tun, wie wir uns bewegen
und atmen, zeigt uns, ob wir die natürlichen Prozesse ungehindert
zulassen können oder in einschränkenden Mustern verhaftet sind. Wir
lernen, die Bedürfnisse des Organismus zu erkennen, der eigenen
Wahrnehmung wieder zu vertrauen, die auf uns wirkenden Kräfte
(Schwerkraft, Unterstützung des Bodens) bewusst zu erleben und zu
nutzen. So können sich unsere Anlagen frei entfalten – es ist alles
da und muss nur hervorgelockt werden - und so sind wir in der Lage,
den Anforderungen des Lebens angemessen zu begegnen.
Leben hat nichts mit Methoden zu tun. Wir lernen von kleinen Kindern
oder wachsenden Pflanzen, was es bedeutet zu leben. Wenn wir wacher
werden, können wir
klarer fühlen, was unsere eigene Natur uns sagen möchte.
Charlotte Selver